BUCHCOVERREZENSION
Tutii EiskalteHoelle

KARIN KALISA –

Radio Activity

Die ersten Gedanken waren der Titel und das Album von Kraftwerk, aus dem Jahre 1975. War um diese Zeit eine echte revolutionäre Musik und passt auch heute noch, als musikalische Unterhaltung, in fast jedes Ohr. Ist natürlich Geschmackssache. Mit Musik hat dieses Buch trotzdem zu tun, auch wenn hier die Auswahl nicht nur revolutionär ist, sondern auch so unterschiedlich und abwechslungsreich, das diese nie Einzug in ein Programm eines Mainstream-Radios finden würde. Was den Machern von „Tee und Teer“ jedoch so leicht egal ist, Grischa, dessen Name einem Probleme bereiten könnte ihn auszusprechen, Tom, der engagiert einfach Unterhaltung machen will, auch für Randgeschmäcker und Nora, die allerdings einige andere Pläne hat, mit einen öffentlichkeitswirksamen Radioprogramm, das sich ganz neu aufstellen möchte. Da gibt es zwar einige Schwierigkeiten, aber Karin Kalisa steht ihren Protagonisten hilfreich zur Seite, so das dieses Format doch relativ schnell auf Sendung gehen kann und der Erfolg gibt den neuen Radiomachern auch recht. In einer Stadt am Meer, die schon bessere Zeiten gesehen hat, im Laufe der Geschichte oftmals arg gebeutelt wurde und sich die Perspektiven der meisten Bewohner sich in arg begrenzten Dimensionen halten, ist etwas Optimismus vonnöten und hier will das Team um Nora ganz schnell etwas ändern. Aber nicht nur Alltagsunterhaltung soll geboten werden, sondern auch Wege, die die graue Umgebung der Menschen etwas bunter machen wird. So weit, so gut, „Tee und Teer“ schafft es, sich in den Herzen und Ohren der Zuhörer zu etablieren, wobei auch andere Formate mit ins Spiel kommen, wenn, beispielsweise, der doch eher inaktive Lauscher am Radioapparat plötzlich zu einem Mitakteur des Programms wird, das viele mitreißen wird. Nicht nur die Lauscher auf heißt das Credo, sondern aktiv mitgestalten. Und das ist etwas neues, nicht alltägliches, was jedoch großen Anklang findet. Karin Kalisa stellt das bildgewaltig vor, vielleicht bekommen wir ja mal vernünftige Radiosender, die nicht nur von irgendwelchen Hitlisten spielen, die nur dem Kommerz dienen und bei denen ständige Wiederholungen angesagt sind und das teilweise stündlich, sondern auch mal Musik ausstrahlen, die nicht über den Ladentisch gehandelt wird. Aber hier wurde, viel wichtiger, eine Plattform geschaffen, auf der Nora jetzt Probleme in Angriff nehmen möchte, die ihr schon länger auf dem Herzen drücken. Ihre Mutter wurde, als Kind, sexuell belästigt und der Täter ist auf freiem Fuß und nicht nur das. Er lebt unbescholten vor sich hin, als angesehener Bürger, dem man es ja nicht ansieht, das er pädophil ist. Trotz aller Rechtsmittel, die Nora ausschöpfen möchte, läuft sie gegen eine Wand, es ist niemand wirklich daran interessiert, diesen Missbrauchsfall auch nur noch einmal in Augenschein zu nehmen. Na mal gut, das Simon den Weg in das beschauliche Städtchen am Meer gefunden hat. Karin Kalisa formuliert eine knallharte, mehr als berechtigte, Anklage gegen das deutsche Rechtssystem und deren Vertreter, so wie gegen alle Menschen, die bei Kindesmisshandlungen gern in eine andere Richtung schauen werden. Sie macht darauf aufmerksam, das das Kindeswohl noch über allem anderen zu stehen hat. Kinder können sich kaum wehren und wenn einige das doch tun, können aus Opfern schnell Täter werden, wie die Tatsachenlage, das ja auch immer wieder beweist. Dabei ist es egal ob ein Kind sexuell oder anderweitig missbraucht wurde. Der Hass, der sich in dem Bewusstsein aufbaut und aufstaut, kann verheerend werden, wenn man nicht etwas unternimmt, das dem missbrauchten Kind geholfen wird. Ein Punkt, der von den Stellen, die eigens dafür geschaffen wurden, recht häufig wohlwollend übersehen wird, sind doch nur Lappalien. Karin Kalisa plädiert dafür, genau hier die Brechstange wieder neu anzusetzen, was bei dem aktuellen Hintergrund auch sofort geschehen sollte. Kindesmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt, wie das so einige, gerade „Grünen“-Politiker, das sehen wollen. Gerade die Aufklärungen über Jeffrey Epsteins Geschäfte, die weltweit für Furore sorgten, sollte hier auch für ein schnelleres Handeln sorgen. Die Idee, die Karin und ihre Figuren dazu haben ist zwar nicht so wirklich gesetzeskonform, aber hier zeigt sich doch wieder die Wahrheit des Faktes, wo Unrecht zu Recht, oder auch umgekehrt, wird, sollte Widerstand zur Pflicht werden und ziviler Ungehorsam zum Alltag, weil alle Menschen das Recht auf ein würdevolles Leben haben. Starkes Buch, hammerharte Lektüre mit Einblicken, wo man auch nie wieder wegschauen sollte. Ein Plädoyer für die Menschlichkeit.
(Droemer)

ISBN 978-3-426-30665-9 315 Seiten (+ Anhang) 10,99€ (D) 11,30€ (A)

KARIN KALISA – Sternstunde – Archiv Dez. 2018