BUCHCOVERREZENSION
Tutii EiskalteHoelle

NINA LAURIN –

Böser als Du denkst

Bei solchen Geschwistern braucht man keine Feinde mehr. Nur, warum hat sich das so entwickelt? Die Zwillinge Andrea und Eli verlieren ihre Eltern bei einem Wohnungsbrand. Da sind sie zwölf Jahre alt. Und der Feuerteufel wird auch gleich ausfindig gemacht. Eli. Die Frage, wie er zu einem Feuerzeug kommt, das eigentlich einem Menschen gehört, mit dem er, noch nicht einmal ansatzweise, wirklich zu tun hatte, stellt sich jedoch keiner. Zwölf Jahre darf der kleine Scheißer jetzt absitzen, wegen Mordes und das macht er mit Bravour. Lässt sich, nebenbei, interviewen, für ein Buch, das seine Tat beschreiben will. Nur hat er sie nicht begangen, aber das weiß ja keiner weiter, außer Andrea. Und die hält dicht. Nina Laurin legt Spuren in den Sand, die sich ganz schnell wieder verlieren, weil die Wellen, die den Ermittlern entgegenschlagen, das ganz schnell wegwaschen werden, und schon taumeln so einige Leute, die Nicht- und Halbwissen mit originellen Erkenntnissen gleichstellen wollen, hart an einem Abgrund geraten, der mal ordentlich zurückschauen möchte. Nietzsche würde sich geehrt fühlen, dass man seine These so originell nachvollzieht. Vielleicht ist Nina ja eine Art Erbe von ihm. Die Jahre vergehen. Andrea ist, nach dem Weg zum Erwachsenwerden, jetzt damit konfrontiert, dass ihr Zwillingsbruder das auch gemacht hat. Strafe abgesessen, er ist frei, soweit man das, in unserem Vorurteilsuniversum, so sagen kann. Er ist kein anerkannter Politiker oder ein Paolo Pinkel, dem man bei Versprechen, Kniefällen und Ehrenworten ganz schnell aus der Verantwortung lässt, sondern, er soll seine Eltern abgefackelt haben und das hinterlässt doch Spuren, die man nicht so leicht aus seinem Blickfeld lässt. Ja, soll. Nicht hat. Und der Knabe ist jetzt stinksauer, verständlich. Zwölf Jahre Jugendknast sind kein Ponyreitstall und auch kein Streichelzoo. Diese Jahre haben ihn gezeichnet. Er ist nicht mehr der sympathische und unbeschwerte Junge, der leicht Kontakte knüpfen und seine, damals emotional eher schwerfällig agierende, Schwester umtanzen konnte. Im Gegenteil, seine Vergangenheit wird auch nicht so gut gewesen sein, nur schweigt er darüber. Aber irgendwie muss er seine Schwester geliebt haben. Sein Schweigen über diese Tat, sein Knastaufenthalt, den er ohne Murren in Kauf nimmt, sollten schon Bände sprechen. Da die Gesellschaft gerne selbst (vor- oder/und ver-)urteilen möchte, ohne unliebsame Nachfragen, stellt man Eli komplett kalt. Er darf keinen Kontakt mit seiner Schwester haben. Ob sie das auch will, nun ja … Schweigen. Während Nina Laurin recht trittsicher agiert und ausdrucksstark schreibt, treibt sie Eli auf einen ganz schmalen Grat. „Böser als Du denkst“ ist eine sehr gute, vielen Dank für diese Untertreibung, eine grandiose Fortführung ihres Thrillers „Escape“, wo sie auch die Verlierer einer inhumanen Gesellschaftsordnung beschreibt, die einfach nur untergehen werden, weil sie nicht mehr kämpfen können. Von Wollen ganz zu schweigen. Die lieben Mitmenschen, allen voran unsere Politiker, die zwar zu allem fähig, aber zu nichts zu gebrauchen sind und, von hier auch, einen Dank an alle Vorurteile dieser Welt, werden ihnen ein Mitwirken an unserem Leben verwehren wollen. Das Hinterfragen ist nicht so die große Sache in unserer Gesellschaft, wenn es um leidende und schweigende Menschen geht. Umso größer ist doch die Präsenz von Typen, die hier etwas hochstapeln wollen. Eli ist ein Opfer, ohne Frage. Nur, wer stellt ihm Fragen? Selbst, wenn man sie ihm stellen würde, wird er sie nicht beantworten wollen. Ein Opfer, das schweigen wird. Seine Schwester zu schützen, und dann komplett durchzudrehen, hat keiner auf dem Plan. Man versucht es nicht einmal, auch nur ansatzweise, zu ihm durchzukommen. Obwohl es heute hochbezahlte Spezialisten gibt, die auf alles eine Antwort haben wollen. Eli ist der stille Leidende, der keine Stimme hat, in unserer Gemeinschaft. Nina Laurin lässt ihn durch alle Mühlen laufen, die ihn dann zermahlen werden. Wenn er die Stimme erheben möchte, wird das nicht erkannt. Keiner wird ihm zuhören. Die Gesellschaft hat ihn soweit beiseite gestellt, dass er immer der Loser sein wird. Keiner wird ihm eine Hilfestellung geben. Nicht einmal seine Schwester. Der Mensch, der ehemals seine Schwester schützen wollte, ist plötzlich ein Arsch und, ganz klar, immer der Verlierer. Und seine Opfer häufen sich. Nina Laurin könnte das etwas anders sehen, weswegen sie das Buch so geschrieben hat. Wir sehen das, von dieser, unserer, Seite aus, etwas anders. Wofür gibt es manche Leute? Eine Wahl würde sehr leicht fallen. Christian Kraus, promovierter Arzt und Psycho-Spezialist aus Hamburg, wäre bestimmt in der Lage gewesen, dem Knaben hilfreich unter die Achselhöhlen zu greifen und zu stützen. Nur, wenn Nina das gewollt hätte, dann hätte sie dieses Buch nicht schreiben können. Und hier müssen, wollen wir natürlich auch, Herrn Kraus wieder integrieren. Seine Aussage, man wird immer der Arsch sein, egal was man macht, ist doch schon genauso legendär geworden, wie der Schwur der afrikanischen Elefanten, nie etwas zu vergessen, der Marsch Hannibals über die Alpen, der Einfall der Vandalen in Nordafrika und der Weg Attilas, der „Geißel Gottes“, nach Europa. Hätte man Christian ein, zwei Stunden Zeit gegeben, mit Eli, dann wäre Nina heute eine Autorin von Koch-, oder/und Kinderbüchern. Da das nicht geschehen ist, kann sich Nina Laurin auf die Fahne schreiben, eine gut annehmbare Größe, was das Beschreiben menschlicher Tiefpunkte beinhaltet, sprich eine Thriller-Autorin mit extremen Tiefgang zu sein, wohl sehr gut für sich beanspruchen.
(Knaur)

ISBN 978-3-426-65411-8 376 Seiten 14,99€ (D) 15,50€ (A)

NINA LAURIN – Escape – Archiv April 2018
CHRISTIAN KRAUS – Nichts wird Dir bleiben – Archiv Okt. 2019 TIPP