BUCHCOVER | REZENSION |
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HARALD GILBERS –TotenlisteHundert pro kann man davon ausgehen, das Harald Gilbers schon wieder den Schalk im Nacken hat. Kommissar Oppenheimer auf die Straßen des kriegsversehrten Berlin im Winter 1946 zu jagen, kann ja für den Mann nichts Gutes bedeuten. Dreimal war Oppi schon unterwegs, für Harald die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen, damit sein Schriftsteller nicht unter einer Brücke schlafen muss. Kann man also davon ausgehen, dass er jetzt das auch wieder machen soll. Schriftsteller können schon egomanische Menschen sein. Leser aber auch, Herr Gilbers. Keine Frage. Oppenheimer hat eine sattsam bekannte Vergangenheit, die Harald gerne ausnutzt. Jetzt schickt der Herr der Zeilen seinen Kriminalkommissar wieder hinaus, diesmal in die Kälte des Hunger-Winters 1946/47, damit er, auch 2019, noch seine Miete bezahlen kann, für sein derzeitiges Domizil. Ist doch deprimierend, inspirierend. Warum machen wir das nicht alle? Oppenheimer arbeitet jetzt in der Suchstelle für vermisste Personen, seine Frau für die englischen Alliierten. Nur suchen die nicht nach Vermissten, sondern nach Golfbällen. Herr Gilbers hat einen recht schrägen Humor. Mann, gut das Oppenheimer die Ruhe weg hat. Und jetzt schleicht sich eine Mordserie an den Mann heran. Die Toten haben Namen auf die Haut gemalt bekommen und man kann sie mit NS-Verbrechen in Verbindung bringen. Der Täter, ein Mensch der die Nürnberger Prozesse für eine Farce hält? Wäre naheliegend. Das Problem ist, das sich nur langsam ein Bild zeigt. Aber plötzlich alle Besatzer, die sich schon mit allem Brimborium dem „Kalten Krieg“ widmen wollen, auf Kosten der Menschen, der jetzt geteilten Welt, sich aber richtig in die Hosen gepinkelt fühlen. Tatverdächtige gibt es. Erst einen und die Russen sind völlig aus dem Häuschen, weil, genau der darf das nicht sein. Auftritt von Oberst Aksakow, der das Vertrauen seines Schriftstellers teilt und, klar, Oppenheimer beauftragt, sich dieser Sache anzunehmen. Georg Hüttner ist ein Vorzeigekommunist und auch bekannt mit Erich Mielke. Der darf fast alles machen, nur morden sollte das Gewaltmonopol der Alliierten bleiben, obwohl sie dieses Heft schon lange aus der Hand gegeben haben. In Berlin geht das Leben weiter, auch wenn nicht so, wie von den Besatzern gedacht. Nikolai Bersarin, der erste Stadtkommandant der Stadt, ist schon tot. Leider. Weil dieser Mann sich den Nöten der Menschen angenommen hatte. Lange bevor, die Golfbälle suchenden Engländer, die vor sich hin swingenden Amerikaner und die Franzosen, die eigentlich um diese Zeit keine wirkliche Höhepunkte, außer der Resistance von Charles de Gaulle, vorzuweisen haben, in der geteilten Reichshauptstadt aufgeschlagen sind. Man mag über die Russen, als Besatzer, denken, wie man will. Hätten wir Bersarin nicht gehabt, wäre Berlin, damals, in eine Agonie versunken, ohne Ende. Oppenheimer kann das bestätigen, und deswegen nimmt er auch das Angebot, ja schon klar, den Befehl, von Oberst Aksakow an, und macht sich wieder auf die Socken hier nach zu forschen. Ist ja auch nicht ganz uneigennützig. Der russische Offizier ist recht freigiebig, für die damalige Zeit geradezu verschwenderisch. Da kann man mal sehen, wie verwöhnt wir geworden sind. Für einen Rucksack voll Briketts, wir haben keinen Kohleofen mehr, und ein paar nahrhaften Doseninhalten, die wir heute in jedem Supermarkt zu kaufen bekommen, würden wir nicht mal den Rücken gerade machen, geschweige denn aufstehen. Heute! Zigaretten einzeln zu kaufen? Dafür haben wir jetzt Obdachlose, die wir gerne in die hintersten Ecken unserer Realität schieben wollen. Damals war die Zeit jedoch anders. Harald Gilbers tobt sich richtig aus. Zeigt den Spiegel der Generationen mal ungeschminkt. Gibt doch dem Thema „Bestechung“ eine ganz andere Bedeutung. Fragt mal Eure Eltern oder Großeltern, was damals abgelaufen ist. Wie die Lebensbedingungen waren. Das kann sich heute wohl keiner mehr wirklich vorstellen. Harald gibt Geschichtsunterricht, wie er nicht mehr wirklich praktiziert wird. Und fragt Euch, heute, wie so manches funktioniert. Warum Politiker heute mit fast aller Scheiße durchkommen, die sie bauen. Auf uns abwälzen. Da waren die Obersten Bersarin, den gab es ja wirklich, und Aksakow, auch wenn er hier eine Erfindung von Harald ist, und bei Oppi zum Einsatz bläst, doch ehrlicher. Oppenheimer hat einen neuen Fall und da kann er richtig dran knabbern. Harald kann sich zurücklehnen, seinen Kaffee oder Tee genießen. Der Leser ist, jetzt lückenlos, versorgt und eine Miete für Haralds Wohnung ist wieder bezahlt. Unter Brücken muss er nicht schlafen. ISBN 978-3-426-52182-3 503 Seiten 9,99€ (D) 10,30€ (A) |