BUCHCOVERREZENSION
BrodyRendell DieRebellionVonLaterre

JESSICA BRODY & JOANNE RENDELL –

Die Rebellion von Laterre

Victor Hugo hätte seine wahre Freude. Im Dankeswort beider Schriftstellerinnen wird er auch extra hervorgehoben, immerhin haben sie seine Gedankengänge weitergesponnen und den Vorteil gehabt, zu Hause schreiben zu können, während der unübertreffliche Meister der „Les Miserables“ sein Werk im Exil vollenden musste. Eine Prise Michael J. Sullivan spielt auch hinein. Das geschriebene Wort sollte garantieren, dass man nichts vergisst. Auf Laterre hat sich selbiges recht rar gemacht. Mit dem schleichenden Tod der Erde hat man sich auf interstellare Reisen begeben und das Sternensystem Divine für die Erhaltung der menschlichen Enkel für gut befunden. Obwohl man über mehrere Planeten hergefallen ist und eine Art interstellare Raumfahrt beibehalten hat, wurde dabei ein Prozess ausgelöst, der den modernen Menschen um Jahrhunderte zurückwarf. Der Frühkapitalismus hat wieder Hochkonjunktur, etwas, was wir schon vergessen haben? Analphabeten sind wieder an der Tagesordnung. Das geschriebene Wort ist nur noch ein Begriff am fernen Horizont. Nun ja, ein dummes Volk lässt sich besser regieren, das weiß auch unsere Bundesregierung. Die Handlanger der Herrschenden müssen auch nicht lesen können, sie sollen ja nur Befehle ausführen und die kommen über Armimplantate wörtlich rüber. Das ist ein kleiner Monitor mit Lautsprecherfunktion, eingearbeitet im linken Unterarm, was machen dann Linkshänder? , der sogar eine Zweiwegefunktion hat, aber nicht mehr so effektiv ist wie, beispielsweise, unsere heutigen Handys sind. Diese Implantate können aber trotzdem noch andere Dinge. Das ist auch eine Art Stechuhr, wo sich die Angehörigen des dritten Etats sich auf ihrer Arbeitsstelle einloggen müssen, damit die Oberen, sprich der zweite und erste Etat, sofort nachschauen können, war der jetzt zum Knuffen in der Fabrik oder geht der gerade aufs Klo, von anderen persönlichen Dingen ganz zu schweigen. Man kann damit auch ganz intensiv Gehirnwäsche betreiben. Es gibt ja kaum andere Möglichkeiten, sich zu informieren. Dieser kleine Monitor am Arm sendet sofort alle möglichen Nachrichten an die Unterschicht, natürlich wohl sondiert durch die herrschende Klasse, die alle Informationen sich so hindreht, wie man es gerade braucht. Die beiden Schriftstellerinnen sind nicht nur auf der Spur von Victor Hugo, sie stellen auch die deutsche Bundesregierung blank dar, die einen Aufruf startete, sich seine Informationen doch lieber über die GEZ-kontrollierten Sender einzuholen, als im Internet nachzuforschen. Nicht nur, dass man hier mehr als sehr sparsam informiert wird, auch diese Fronabgabe soll, natürlich politisch „legalisiert“ werden. Sie bleibt trotzdem Unrecht! Und dient nur dazu, einem staatlich kontrollierten Nachrichtennetz Halb- und Unwahrheiten in die Ohren der Steuerzahler zu träufeln. Und gibt Vermietern von Wohnungen, die wir ja auch brauchen, die Wohnungen, um zu überleben, immer wieder die Möglichkeit, hier eine kleine versteckte Mieterhöhung vorzunehmen, ganz demokratisch natürlich. Victor Hugo würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das wüsste, was heute alles möglich ist. Er war ein Revolutionär seiner Zeit, ein fortschrittlicher Denker, Schriftsteller und Humanist. Ohne Frage. Weswegen beide Autorinnen sich dieses Themas ja auch bemächtigen. Seine Idee weiterentwickelt haben. Das seine „Les Miserables“ so eine Steigerung erfahren dürfte ihm, wie Honig, auf der Zunge zergehen. Hundertprozentig hätte er hier gerne den ersten Testleser gemacht. Victor, man kann nicht alles haben. Wir dürfen das jetzt lesen und auch Deiner gedenken. Jessica Brody und Joanne Rendell haben gute Arbeit geleistet und Deine Gedanken, fast eins zu eins, die Modernisierung muss man natürlich berücksichtigen, dafür aber sehr spektakulär und spannend umgesetzt, und trotzdem die Grundgedanken der handelnden Figuren im Auge behalten. Besser geht nicht? Es wird noch besser, wenn man in die Politik schauen möchte. „Les Miserables“ ist jetzt auf einem neuen, interstellaren, Niveau. Jeder Ausbildungsbetrieb in Berlin klagt seit Jahren schon darüber, dass Bewerber für Lehrstellen nicht mal mehr richtig lesen und schreiben können, vom Rechnen ganz zu schweigen. Oder mit Klaus-Peter Wolfs genialer Figur, Hauptkommissar Rupert, mal zu sagen, mit Emoji können jetzt auch Analphabeten Nachrichten versenden. Ob die hier so sinnvoll sind und das so greifend für eine Berufsausbildung ist, kann man dann doch wohl stark verneinen. Dürfe dem Leiter der Personalabteilung eines Berliner Traditionsbetriebes, der auch noch einen Ruf als Marktführer für seine Produkte, zu verteidigen zu hat, auch nicht wirklich weiterhelfen, sondern eher aufs Gemüt drücken. Ob der dann die Rückführung in frühkapitalistische Verhältnisse haben möchte, kann man hier auch und ganz getrost sagen, Nein, das will er eigentlich nicht. Eins stellt dieser Personalchef immer ganz nach vorn. Die Voraussetzung Lesen, Schreiben und Rechnen zu können, ist ganz wichtig. Und der Mann ist ein waschechter Kapitalist, eigentlich. Das waren andere auch, nur was ist daraus geworden? Da gibt es Möglichkeiten, mal darüber nachzudenken. Auf Laterre sind diese Möglichkeiten stark begrenzt. Hinter einen Horizont geschoben, der einem das nicht mehr ermöglichen möchte, wenn es nicht die kleinen und, meist stillen, Rebellen geben würde, die sich dagegen auflehnen werden. Hammerstarkes Buch.
(Knaur)

ISBN 978-3-426-52482-4 534 Seiten 16,99€ (D) 17,50€ (A)

MICHAEL J. SULLIVAN – Zeitenfeuer – Archiv Okt. 2019
KLAUS-PETER WOLF – Ostfriesennacht – Archiv Okt. 2019

Weiterführend
VICTOR HUGO – Les Miserables
VICTOR HUGO - Gavroche